Fäden für alle Sinne

Kunst wird immer taktiler. Allzu lange als Frauen–Kunsthandwerk gering geschätzt, erringt Gewobenes, Gesticktes, Geflochtenes nun endlich seinen gebührenden Platz in der globalen Kunstszene.

Sheila Hicks «Scarlet Bas-Relief», 2014.

Ein blauer Berg türmt sich im Lok, dem Eisenbetonbau der Lokremise St. Gallen, und man kann nicht anders als staunen. Mächtig steht er da, reicht er doch bis unter die Decke. Aber würde man ihn besteigen, man würde darin versinken. Dahinter fallen Garne von der Decke und umspülen den Boden, als wär es ein Wasserfall. Wer vor den textilen Skulpturen der Künstlerin Sheila Hicks steht, den erfüllt unwillkürlich ein Gefühl von sinnlichem Wundern und Staunen. Wie kann man aus so einfachen und altbekannten Materialien etwas schaffen, das sich vollkommen neu anfühlt?

«Look, walk around, feel!» Beschwörend tönte Sheila Hicks’ Aufforderung an ihr Publikum. Die 87-Jährige hat mit Wolle und Garnen, mit Gewobenem und Geknüpftem ihre eigene künstlerische Sprache gefunden. Die Amerikanerin scheint auf einer Mission – mit dem Ziel, die Besucherinnen und Besucher für den Werkstoff Wolle und für ihre Kommunikation mittels Fasern zu sensibilisieren. Mit Erfolg. Warum nur, fragt man sich, hat es so lange gedauert, bis Arbeiten aus Textilien gleichberechtigt etwa mit Ölmalerei oder Fotografie in die bedeutenden Kunsthallen dieser Welt vordringen konnten?

Sheila Hicks verdankt ihre globale Visibilität einer noch viel gewaltigeren und farbigeren Landschaft als derjenigen in St. Gallen, nämlich einer, die sie 2017 an der Biennale Venedig ausgestellt hat. Vielleicht war das der Moment, da Kunst aus einfachen, farbigen Wollfäden ein überraschendes Entree in die Kunstwelt erhielt. Überraschend deshalb, weil vor nicht allzu langer Zeit Gewobenes, Geknüpftes, Makramee und Gesticktes als dekorative, meist von Frauenhand gestaltete Gebrauchskunst abgetan wurde und somit der Zutritt zur Kunstwelt weitgehend verwehrt war. Erst mit dem weiblichen Sturm auf die Bastionen des Kunstestablishments und dem Verfliessen der Grenzen zwischen Kunst, Handwerk und Design wurden die Kunst aus Textilien und ihre prägenden Positionen Teil der Diskussion.

Mit ihren riesenhaften, im Raum zu schweben scheinenden Objekten kommt die im Alter von 86 Jahren verstorbene Polin Magdalena Abakanowicz erst jetzt, sechs Jahre nach ihrem Tod, zu posthumem Ruhm. Genau wie Hicks hatte sie sich radikal vom flachen Wandteppich verabschiedet und gestaltete stattdessen stupende dreidimensionale Formationen aus gewobenen oder aufgezwirbelten Garnen. In den 1960er-Jahren wurde Abakanowicz der damals aufstrebenden Kunstbewegung der Fiber-Art zugeschlagen. Die Schubladisierung ärgerte sie. Als 2009 einige ihrer gewobenen Skulpturen in die Sammlung der Tate Modern in London aufgenommen wurden, besuchte die Kuratorin Ann Coxon die Künstlerin in ihrem Warschauer Studio. «Sie hatte es satt, als Textilkünstlerin bezeichnet zu werden. Sie hatte sich gewünscht, dass die Welt sie als Bildhauerin ernst nimmt und erkennt, dass ihre Werke grosse Themen behandeln; sie sind Reaktionen auf den Krieg und den Zustand des Menschen. Sie sind sehr existenziell.» Abakanowicz selbst bezeichnete ihre hoch experimentellen Arbeiten als «loom thinking». Sie arbeitete ohne Entwurf, liess sich von der Intelligenz der Naturmaterialien lenken, improvisierte. Die Faser betrachtete sie als Grundbaustein der menschlichen Existenz: das Kernelement des Lebens, auf dem die Welt, die Pflanzen, aber auch der Mensch gründen.

Was Abakanowicz als beengend empfand, interpretierte Hicks für sich als Freiraum. Sie störte sich nicht daran, jahrzehntelang in die Kunsthandwerkecke gestellt zu werden, im Gegenteil. Sie hatte zwar an der Yale University Kunst und Kunstgeschichte studiert, unter anderem bei Josef Albers, dem ehemaligen Bauhaus-Meister und grossen Farbtheoretiker. Als sie dank einem Stipendium 1957 durch Chile und Peru reiste, änderte sich jedoch ihr Fokus. In den Dörfern der Hochebene hatte sie die präkolumbianische Textilkultur entdeckt, begann, auf einem alten Webstuhl traditionelle Webarten zu rekonstruieren, entdeckte die Energie, Leichtigkeit und Formbarkeit der Garne. Sie bereiste sämtliche Staaten Südamerikas und später Länder wie Marokko und Indien, um die Webtechniken lokaler Kunsthandwerkerinnen und Kunsthandwerker zu lernen. Wolle, Garne, Leinen in allen Schattierungen wurden ihre Palette – immer inspiriert von den Farben der Natur: den türkisblauen Lagunen, den strahlend weissen Sandwüsten oder den Regenbogenfarben des Machu Picchu.

Unbehelligt von den Eitelkeiten der Kunstwelt, kommerziell höchst erfolgreich und deshalb ohne Mangel an Materialien und Mitteln, entwickelte Hicks ihr Handwerk und ihre künstlerische Sprache. Stetig baute sie ihr textiles Repertoire aus und wagte dabei immer wieder, die Grenzen des ihr Bekannten zu sprengen. 1969 schuf sie eine Auftragsarbeit für den Hauptsitz der Bank Rothschild in Paris. Für die Ausstattung der ersten Boeing-747-Flotte von Air France gestaltete sie im selben Jahr bestickte Wandpaneele, als Assistentinnen fungierten Nonnen eines Karmeliterklosters. Auf Einladung der marokkanischen Regierung half sie mittels Workshops, die Webkultur in Marokko wiederzubeleben. Für die achte Textilbiennale in Lausanne präsentierte sie 1977 eine Installation aus 3000 in ihrer eigenen Waschmaschine eingefärbten Krankenhauskitteln: Es war eine Lawine aus fünf Tonnen Wäsche. Doch die grossen Ehren innerhalb des Kunstkreises werden ihr erst seit gut zehn Jahren zuteil: 2010 feierte Hicks ihre erste umfassende Retrospektive in Andover im US-Bundesstaat Massachusetts, 2018 im Centre Pompidou in Paris, letztes Jahr im Heptworth- Wakefield-Museum im englischen Yorkshire.

Zu späten Ehren kamen auch Künstlerinnen wie Anni Albers (1899–1994) und Sophie Taeuber-Arp (1889–1943), die das Webhandwerk und die Arbeit mit Textilien zu ihrem künstlerischen Ausdrucksmittel erhoben hatten. Gerade Albers hatte sich zeit ihres Lebens für die Webkunst starkgemacht, sah sie genauso als Vermittlerin von Bedeutung wie andere Kunstformen. Als das Museum of Modern Art in New York 1949 seine erste Textilausstellung zeigte, galt diese dem Werk von Anni Albers. Und doch: Bis sich die Sicht der Deutsch-Amerikanerin bei einer neuen Generation von Kuratoren richtig durchsetzen konnte, sollte es noch Jahre dauern. Zwar hatte Fiber-Art vor allem dank der Frauenbewegung Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre besonders in den Vereinigten Staaten eine gewisse Anhängerschaft. Aber erst mit der Erweiterung des westeuropäischen Kunstkanons und den Bemühungen von Kuratoren, vermehrt Frauen auszustellen, wurde Textilkunst richtig ernst genommen.

Eigentlich paradox, dass es so lange gedauert hat. Denn das Handwerk des Webens, das Herstellen von Textilien mit Garnen, ist so alt wie die Höhlenmalerei. In allen Kulturen wurden Wandteppiche nicht nur als Schutz verwendet, sondern auch aus dekorativen und spirituellen Gründen und um Geschichten zu erzählen. Platon, der antike griechische Philosoph, soll die Webkunst gar als Sinnbild für die Republik herangezogen haben, wie der verstorbene Philosoph und Kunstkritiker Arthur C. Danto in seinem Text im Künstlerbuch «Sheila Hicks – Weaving as Metaphor» von 2006 schreibt: So wie Kette und Schuss sich zu einer Struktur verbinden, würden sich im Idealfall auch Staat und Bürger zu einer tragfähigen Gesellschaft vereinen. Der Philosoph betrachtete das Weben als hohe zivilgesellschaftliche Tugend, weil sie – im wahrsten Sinn des Wortes – Gegenläufiges verbindet.

Die Metapher hat etwas Faszinierendes: Wo eigentlich etwas Lapidares geschieht – das rechtwinklige Zusammentreffen von vertikalen Fäden auf horizontale Fäden, die sich zu einer textilen Fläche vereinen –, vollzieht sich gleichzeitig etwas Höheres: Weben verbindet Individuelles, ohne Unterschiede aufzulösen. Die fast schon mythische Überhöhung steht im Gegensatz zur jahrzehntelangen Geringschätzung, die ihren Ursprung wohl darin fand, dass sämtliches Textile – Nähen, Flicken, Spinnen, Sticken, Stricken – mit dem Häuslichen assoziiert wurde. Und mit dem Weiblichen.

«Garn ist eine universelle Sprache, etwas, das zu allem werden kann: einer Hängematte, einem Fischernetz, einem Hut, einem Haus.»

– Sheila Hicks, Künstlerin

Das Vorurteil sass tief, selbst bei progressiv Denkenden. «Wo Wolle ist, da ist ein Weib, das webt, und sei es nur, um sich die Zeit zu vertreiben.» Der chauvinistische Spruch stammt vom Künstler und Bauhaus-Meister Oskar Schlemmer, der 1921 zur Ausbildungsort in Weimar stiess. Der Umgang mit Geschlechterfragen war kein Ruhmesblatt für das Bauhaus, die Brutstätte der Avantgarde. Wer sich zwischen 1919 und 1933 als Frau in Weimar und Dessau ausbilden lassen wollte, wurde automatisch in die «Frauenabteilung», die Werkstatt

für Weberei, verbannt. Und obwohl genau diese Textilwerkstätte zur kommerziell erfolgreichsten Abteilung des Bauhauses wurde: Das Vorurteil der künstlerisch minderwertigen Gebrauchskunst hielt sich hartnäckig.

Doch die Geringschätzung für das, was früher dem Kunsthandwerk zugeschlagen wurde, hat sich in den letzten Jahren ins Gegenteil verkehrt. Auffällig oft gelangen nun deren Pionierinnen, aber auch junge Kunstschaffende auf den Radar der grossen Kuratoren. Eines der Glanzlichter der letztjährigen Biennale in Venedig war ein ausladender textiler Wandbehang des Südafrikaners Igshaan Adams (*1982). Von Mrinalini Mukherjee (1949–2015) waren totemartige Gebilde aus selbst gefärbtem Makramee zu sehen. Die Chilenin Cecilia Vicuña (*1948) zeigte von der Decke hängende gezwirnte Seile, die sich mit Fundstücken zu einer prekären Installation verbanden – und gewann den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk.

Und so nimmt nun eine neue, meist jüngere Generation den Faden von Vorreiterinnen wie Abakanowicz, Albers und Taeuber-Arp neu auf. Doch stammen die Künstlerinnen und Künstler, die heute mit Garnen und Fäden, mit Perlen und Federn weben, knüpfen, nähen, häkeln und mit ihren Arbeiten die neue Avantgarde der Kunst bilden, aus Peru, Chile, Südafrika, Indien. Sie nehmen lokale Traditionen ihrer Heimatländer auf, verhandeln existenzielle, kulturelle, politische Fragen, rücken angesichts der Klimakrise die Natur in den Fokus. Sie weben ihre kulturellen Wurzeln und Traditionen in ihre Werke mit ein.

Die Chilenin Cecilia Vicuña belebt mit ihren textilen Skulpturen aus ungesponnener Wolle, Pflanzenfasern und Seilen die Knotenschrift Quipu neu, ein aus Fäden und Seilen geknüpftes Kommunikations- und Zählsystem der indigenen südamerikanischen Bevölkerung des Inkareichs. In ihrer Installation «Brain Forest Quipu» in der Tate Modern lässt sie ihre typischen Naturgebilde in eine Wechselwirkung mit Musik und Videos treten; ein Gemeinschaftsprojekt, das in Zusammenarbeit mit Künstlern, Aktivisten und Mitgliedern der lateinamerikanischen Community von London entstanden ist.

Die Idee des Kollektivs greift auch der Südafrikaner Igshaan Adams auf, wenn er Schnüre, Glasperlen, Plastik, Holz, Seide, Muscheln oder Stoffe zu grossen Teppichen oder raumgreifenden Installationen verwebt: Oft beschäftigt er Frauen, die traditionelle Webtechniken beherrschen. Über diese Zusammenarbeit fliessen Traditionen, Vorstellungen, aber auch persönliche Geschichten anderer in seine Werke ein.

Auf die Masken bengalischer Volkskunst bezieht sich der in London lebende Inder Sayan Chanda (*1989). Die unregelmässig gewobenen Installationen aus gefärbter Wolle mit Schlitzen und Löchern für Augen und Mund haben eine magische Anziehungskraft.

Und auch im Westen wird an alte Traditionen, die gewobenen Bildergeschichten der klassischen Renaissance-Tapisserien, angeknüpft. Die in Los Angeles lebende Schweizerin Christina Forrer etwa lässt sich für ihre von cartoonhaften Figuren bevölkerten Wandteppiche von Volkstraditionen und der Historienmalerei inspirieren.

Alle textilen Werke haben etwas gemein: Sie sprechen mehr an als nur den Sehsinn. Man möchte sie berühren, an ihnen riechen. Und genau darum geht es auch Sheila Hicks. Einmal gefragt, was sie sich von Betrachtern ihrer Werke wünsche, meinte sie: «Ich denke, das Wollen ist wichtig: sie in den Händen halten zu wollen, sich mit ihnen anfreunden zu wollen. Zu sehen, ob sie beissen.»

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